
Hinter dem Glanz des Wirtschaftswunders: Kinderarbeit und Diskriminierung prägten die BRD bis tief in die 70er. Diese Analyse zeigt den mühsamen Weg zur Freiheit – von der Ausbeutung der Kleinsten über entmündigte Frauen bis zum Unrecht gegen Homosexuelle. Ein notwendiger historischer Rückblick.
In der kollektiven Erinnerung der Bundesrepublik Deutschland ist die Nachkriegszeit oft golden gerahmt: Das „Wirtschaftswunder“, der VW Käfer, die soziale Marktwirtschaft. Hinter den glänzenden Fassaden verbirgt sich jedoch ein deutlich weniger helles Kapitel, das bis in die 1960er und 70er Jahre zurückreicht. Die Dokumentation „Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945“ erinnert uns daran, dass der Wohlstand des Westens auch auf den schmalen Schultern von Kindern aufgebaut wurde.
Eine kurze Geschichte der Ausbeutung
Kinderarbeit ist kein Phänomen der Neuzeit. Seit der industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert schufteten Kinder in Bergwerken, Textilfabriken und als Schornsteinfeger. Sie waren billig, fügsam und klein genug, um in enge Schächte zu kriechen.
Interessanterweise war es nicht primär humanitäres Mitleid, das die ersten Einschränkungen der Kinderarbeit bewirkte. Der entscheidende Impuls kam vom Militär. Im preußischen Staat des 19. Jahrhunderts stellte man mit Erschrecken fest, dass die jungen Rekruten aus den Industriegebieten körperlich so verkümmert und „verkrüppelt“ waren, dass sie für den Kriegsdienst unbrauchbar wurden. Wer ein schlagkräftiges Heer wollte, durfte seine zukünftigen Soldaten nicht schon im Kindesalter verschleißen. So entstanden die ersten Kinderschutzgesetze – aus Sorge um die Wehrkraft, nicht um das Kindeswohl.
Nach 1945: Das „verschwiegene“ Leid in der BRD
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lage in der BRD paradox. Während man sich als moderne Demokratie verstand, war Kinderarbeit – besonders in der Landwirtschaft, aber auch in Ziegeleien oder kleinen Handwerksbetrieben – an der Tagesordnung.
Die ARD-Dokumentation zeigt eindringlich, dass Kinder oft als „selbstverständliche“ Arbeitskräfte angesehen wurden. Auf den Höfen mussten sie vor der Schule melken und danach bis in die Nacht auf dem Feld stehen. Das Jugendarbeitsschutzgesetz von 1960 blieb in vielen ländlichen Regionen ein bloßes Blatt Papier. Lehrer schauten weg, die Gesellschaft schwieg. Es war ein System der Ausbeutung, das unter dem Deckmantel der „familiären Mithilfe“ oder der „Erziehung zur Arbeit“ legitimiert wurde.
Der Blick über die Grenze: Die DDR und der Kinderschutz
Ein Vergleich mit der DDR, wie ihn die Dokumentation anreißt, ist aufschlussreich und rückt die ideologischen Unterschiede der Nachkriegsjahrzehnte in den Fokus. Bereits in ihrer ersten Verfassung von 1949 verankerte die DDR in Artikel 18 ein striktes Verbot von Kinderarbeit – ein klares Signal gegen die ausbeuterischen Praktiken der kapitalistischen Vergangenheit. Während die BRD noch lange an patriarchalischen Strukturen und der weitgehenden Duldung von „familiärer Mithilfe“ auf dem Land festhielt, war die DDR konsequent ein progressiver Staat des Proletariats, in dem die Jugend als die wertvollste Ressource des Sozialismus galt.
Die rechtliche Absicherung gegen die körperliche Ausbeutung von Kindern war in der DDR damit der Situation in der frühen Bundesrepublik schon deutlich voraus. Hier wurde der Schutz des Kindes nicht nur als moralische Empfehlung, sondern als staatliches Grundprinzip festgeschrieben, um die gesunde Entwicklung künftiger „sozialistischer Persönlichkeiten“ sicherzustellen und den Nachwuchs frühzeitig dem Zugriff privater ökonomischer Interessen zu entziehen.
Die BRD: Ein langer Weg zur wirklichen Gleichberechtigung
Die Kinderarbeit war jedoch nur ein Symptom einer tiefgreifend konservativen und repressiven Gesellschaftsstruktur, die das autoritäre Erbe früherer Generationen oft unhinterfragt in die junge Demokratie überführte. Während die BRD sich auf der internationalen Bühne als Vorkämpferin der westlichen Freiheit rühmte, blieb diese Freiheit für große Teile der Bevölkerung – insbesondere für Frauen, Kinder und Minderheiten – im täglichen Leben oft eine bloße Fassade. Es herrschte ein gesellschaftliches Klima der Enge, in dem Konformität über individuelle Entfaltung gestellt wurde und staatliche Institutionen in vielen Bereichen eher als Überwachungs- denn als Schutzorgane fungierten. Die Freiheit des Individuums endete dort, wo sie die bürgerliche Moralvorstellung oder die patriarchale Ordnung infrage stellte.
- Rechte der Frauen: Bis 1977 durfte eine Ehefrau in der BRD nur dann berufstätig sein, wenn dies „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war. Wollte sie arbeiten, brauchte sie oft die Erlaubnis des Ehemannes. Auch bei der Wohnungssuche oder dem Eröffnen eines Bankkontos stießen Frauen ohne männlichen Beistand auf massive Hürden.
- Verfolgung von Homosexualität: Während die DDR den Paragraphen 175 (Strafbarkeit von Homosexualität) bereits in den 50er Jahren entschärfte, hielt die BRD noch bis 1969 an der Nazi-Fassung fest. Zehntausende Männer wurden strafrechtlich verfolgt, ihre Existenzen vernichtet. Erst 1994 wurde der Paragraph endgültig gestrichen.
Die Dekonstruktion eines Mythos
Wenn wir heute über den brisanten Begriff des „Unrechtsstaates“ debattieren, wird dieser im öffentlichen Diskurs exklusiv auf das politische System der DDR angewandt. Doch die historische Analyse zwingt uns zu einer differenzierten Betrachtung: Wenn ein Staat zusieht, wie Kinder über Jahrzehnte systematisch ausgebeutet werden, wenn die Rechtsordnung Frauen wesentliche Selbstbestimmungsrechte verweigert und wenn Menschen aufgrund ihrer Sexualität nach Gesetzen aus der NS-Zeit verfolgt werden, dann muss die Frage erlaubt sein, wie viel strukturelles Unrecht unter der demokratischen Oberfläche der frühen BRD verborgen lag. Es geht dabei um das Eingeständnis, dass die sogenannte freiheitliche Grundordnung über lange Zeiträume hinweg tiefgreifende Ungerechtigkeiten zementiert und die Würde ganzer Bevölkerungsgruppen staatlich legitimiert verletzt hat.
Die BRD hat lange gebraucht, um ihre eigenen autoritären Wurzeln zu kappen. Der Weg zu einer Gleichberechtigung war kein Geschenk der Politik, sondern ein harter Kampf von Aktivisten und Opfern. Die Dokumentation über die Kinderarbeit ist ein notwendiges Korrektiv zu unserer Geschichtsschreibung. Sie erinnert uns daran, dass Demokratie und Menschenrechte keine statischen Zustände sind, sondern jeden Tag neu gegen die Interessen von Profit und Tradition verteidigt werden müssen.
