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Das Schloss in Bad Freienwalde

Rathenaus Nachlass in Bad Freienwalde – 80.000 Blatt kommen heim

Das Schloss in Bad Freienwalde Wenn die Herbstsonne auf Schloss Freienwalde fällt, leuchtet der Bau in jenem Karminrot, das Walther Rathenau ihm vor mehr als hundert Jahren gegeben hat. Wer an diesem 1. November die Stufen hinaufgeht, erlebt den 16. Walther-Rathenau-Tag – einen konzentrierten Arbeitstag zur Heimkehr seines Nachlasses.

159 Kartons, ein Jahrhundert Geschichte

Vortrag von Prof. Dr. Martin Sabrow Rund 80.000 Blatt, verteilt auf 159 Archivkartons, sind endgültig in Bad Freienwalde angekommen. Die vollständige Kopie des schriftlichen Nachlasses Walther Rathenaus liegt nun an dem Ort, den Rathenau selbst als Refugium gewählt hatte.

Der Historiker Martin Sabrow erzählt die Geschichte dieser Papiere: Von der Mutter Mathilde in Berlin gesammelt, 1939 von der Gestapo beschlagnahmt, nach dem Krieg von der Roten Armee in ein Moskauer Sonderarchiv verbracht. Jahrzehntelang unter Verschluss, von der Forschung abgeschrieben. Erst 1992 wiederentdeckt. Die Rückgabe der Originale scheiterte – es blieb nur die Kopie.

Mit dieser Konzentration in Bad Freienwalde verschiebt sich das Zentrum der Rathenau-Forschung dorthin, wo Rathenau lebte und arbeitete. Die Hoffnung: neue Publikationen, neue Perspektiven auf einen Mann zwischen allen Welten.

Der ringende Autor


Im Teehaus fand der 16. Walther-Rathenau-Tag statt Was in diesen Kartons steckt, ist Zeugnis eines widersprüchlichen Lebens. Rathenau, 1867 geboren, war Großindustrieller und Systemplaner – zugleich Essayist und Kulturkritiker. Kriegsrohstofforganisator, später Außenminister der Weimarer Republik. Jude in einer Gesellschaft, die Assimilation verlangte und dennoch ausgrenzte.

Besonders aufschlussreich: das frühe Manuskript „Höre Israel“ von 1897. Nur in der handschriftlichen Ursprungsfassung lässt sich verfolgen, wie Rathenau Formulierungen über das Judentum wieder und wieder überarbeitet, radikale Passagen mildert, Nuancen verschiebt. Der Text, lange als problematische Selbstverachtung gelesen, erscheint nun als Dokument eines ringenden Autors. Sabrow zeigt: Rathenau war kein glatter Vordenker, sondern ein Suchender – Unternehmer und Intellektueller, Patriot und Außenseiter, Reformer und Mordopfer.

Gedenkort und Gegenwartsfrage

Schloss Freienwalde ist der einzige authentische Rathenau-Gedenkort in Deutschland. Die erweiterte Gedenkstätte verbindet persönliche Geschichte mit politischer Gewaltgeschichte. Module aus der Wanderausstellung „Gewalt gegen Weimar“ zeigen Rathenau als Reformer und erzählen den Mord vom 24. Juni 1922: Mitglieder der rechtsextremen „Organisation Consul“ töteten den Außenminister aus Hass auf Republik, Judentum und Liberalismus.

Der Walther‑Rathenau‑Tag stellt die Frage leise, aber unüberhörbar: Was haben wir wirklich aus Weimar gelernt – jenseits von Ritualen und Gedenkformeln? Wie konsequent begegnen wir heute Antisemitismus, Geschichtsrelativierung und demokratiefeindlichen Strömungen in Parlamenten, Medien und Alltagsdiskursen? Der Blick auf den Nachlass, seine Odyssee durch Diktatur, Geheimarchive und politische Brüche, macht schmerzhaft deutlich, wie verletzlich demokratische Ordnungen bleiben – und wie sehr sie auf eine wache, selbstkritische Erinnerungskultur angewiesen sind, die nicht erst reagiert, wenn es zu spät ist.

Ein Anfang

Die 80.000 Blatt in Bad Freienwalde sind keine letzte Instanz, sondern ein Anfang. Sie laden ein, Rathenau neu zu lesen: als Suchenden zwischen Religion und Vernunft, Nationalstaat und Weltbürgertum, ökonomischer Macht und moralischer Selbstbefragung.

Der 16. Walther-Rathenau-Tag zeigt, was ein kleiner Ort leisten kann: Er vereint Archiv, Gedenkstätte und politische Bildung. Er erinnert an einen Mann, dessen Leben an den Bruchkanten der Moderne verlief – und er fragt, wie ernst es uns heute ist mit der Wehrhaftigkeit der Demokratie.

Wer Schloss Freienwalde verlässt, nimmt das Bild eines vielschichtigen Menschen mit – und den Eindruck einer Stiftung, die dieses Erbe seit Jahren mit großer Sorgfalt, Ausdauer und historischer Sensibilität bewahrt. Zugleich wächst die Vorfreude: Die 80.000 Blatt sind weniger abgeschlossenes Erbe als ein Versprechen – wir können es kaum erwarten, dass ihre Auswertung, gerade in Form neuer Publikationen, vielen Menschen einen offenen, zugänglichen Blick auf Walther Rathenau und seine Zeit ermöglicht.