
In der Zeitkapsel von Adlershof – Anna Seghers ganz nah
Eine Wohnung, die Geschichte atmet
Ein unscheinbares Berliner Wohnhaus, eine bewahrte Wohnung – und plötzlich steht man mitten im Leben einer Autorin, deren Werk, Mut und Haltung das 20. Jahrhundert prägten und bis heute nachwirken. Ein Ort, der Geschichte atmet und nahekommt wie kaum ein anderer.
Schon im Treppenhaus liegt dieser schwer beschreibbare Eindruck von Behutsamkeit in der Luft. Man spricht automatisch leiser, als würde die Autorin selbst noch hinter einer der Türen sitzen und auf die Schritte lauschen. Das Haus in der Anna-Seghers-Straße 81 ist ein „abgespeckter Stalinbau“ aus den frühen fünfziger Jahren und wirkt von außen unspektakulär. Doch wer die Wohnung im ersten Stock betritt, steht plötzlich in einer Zeitkapsel: den Räumen, in denen Anna Seghers von 1955 bis zu ihrem Tod 1983 lebte, arbeitete, schrieb, beobachtete… und blieb.
Die Sonntagsführung unter Leitung des Autors und Hörspielmachers Steffen Thiemann beginnt unscheinbar: ein gedämpftes „Bitte hereinkommen“, das Rascheln von Eintrittskarten, ein kurzer Blick auf die Garderobe. Doch im ersten Museumsraum, der einst das Zimmer ihres Mannes László Radványi war, entfaltet sich sofort die intime Atmosphäre der Wohnung. Die Originalmöbel, die Bücherregale, der Schreibtisch mit der Remington-Schreibmaschine aus dem mexikanischen Exil wirken, als habe die Autorin den Raum nur für einen Moment verlassen.
Der Mensch Anna Seghers – Bodenständig, wach, zugewandt
Thiemann betont gleich zu Beginn: Anna Seghers war, trotz internationaler Anerkennung, kein abgehobener Literaturstar. Die Tochter aus einem großbürgerlichen, jüdischen Mainzer Elternhaus lebte hier bewusst in einem Berliner Randbezirk, zwischen ganz normalen Menschen. Sie suchte keine Repräsentation. Sie hörte zu, fragte nach, beobachtete.
Ihre Figuren, Dialoge und literarischen Milieus speisten sich aus einem genauen Blick auf die Welt, aus einer tiefen Menschlichkeit, die nie sentimental wurde. Ob Thiemann von ihren Gesprächen auf der Straße erzählt oder von Begegnungen mit Jugendlichen, Kolleginnen und Nachbarn – stets erscheint eine Frau, die wissen wollte, wie andere leben, denken, hoffen.
Ihre Romane, Das siebte Kreuz, Transit und *Die Toten bleiben jung, *sind weit mehr als Zeitdokumente. Das siebte Kreuz erzählt von Menschlichkeit im totalitären System, Transit vom Zustand des Wartens und dem Verlust von Identität. Die Toten bleiben jung zeigt, wie Gewalt biografisch weiterwirkt. Diese Bücher sind keine Lehrstücke, sondern präzise beobachtete Studien über Menschen in Extremsituationen.
Die Räume – ein stilles Archiv gelebter Geschichte
Je weiter man durch die Wohnung geht, desto deutlicher zeigt sich, wie eng Privates und Öffentlichkeit hier zusammenspielen. Der Wohnraum mit Büchern, Kunst und kleinen Erinnerungsstücken spiegelt ihren Blick auf die Welt. Viele Bände tragen Stempel oder Notizen und erzählen von einem Leben, das von Flucht und Verlust geprägt war.
Das Arbeitszimmer, schlicht und still, wirkt bis heute erstaunlich lebendig. Ein schmaler Schreibtisch, die vertraute Schreibmaschine, Wörterbücher in Reichweite. Hier arbeitete sie oft nachts, konzentriert, fast stoisch. Die Bilder an den Wänden begleiteten sie wie stille Gesprächspartner und halfen ihr, beim Schreiben einen klaren inneren Kurs zu halten.
Exil, Überleben – und der Preis der Haltung
Die Führung zeichnet Seghers’ Lebensweg nach: von Mainz über Paris nach Mexiko. Die Deportation ihrer Mutter, die Flucht, das Exil, die FBI-Akten, der schwere Unfall von 1943, aus dem Ausflug der toten Mädchen hervorging: All dies erzählt Thiemann mit klarer, unaufgeregter Stimme. Die Dramatik liegt im Stoff selbst.
Ihre Werke aus dieser Zeit wirken bis heute modern, weil sie konkrete menschliche Erfahrungen beschreiben. Transit ist ein Roman über Entwurzelung, der auch 80 Jahre später nicht an Dringlichkeit verloren hat. Das siebte Kreuz bleibt eines der eindrucksvollsten Bücher über deutsche Gewalt und über Rettung.
Seghers und die BRD – Distanz und bedrohtes Erbe
Besonders politisch wird die Führung, wenn es um die BRD geht. Für Anna Seghers war die BRD nicht einfach ein anderer deutscher Staat. Es war das Land, in dem viele ehemalige Nationalsozialisten wieder einflussreiche Positionen einnahmen – in Ministerien, Justiz, Wirtschaft, Parlamenten. Für Seghers war eine Veröffentlichung dort ausgeschlossen. Nicht aus starrer Ideologie, sondern aus moralischer Haltung und einen konsequenten Neuanfang.
Nach 1990 drohte der Wohnung in Adlershof das gleiche Schicksal wie vielen DDR-Kultureinrichtungen: die Auflösung. Die Gedenkstätte, erst 1985 gegründet, schien der neuen politischen Realität im Weg zu stehen. Doch engagierte Unterstützerinnen und Unterstützer – allen voran die Anna-Seghers-Gesellschaft – verhinderten das Vergessen. Dass diese Räume heute noch existieren, ist ein kulturpolitischer Glücksfall.
Die Gegenwart dieser Wohnung
Am Ende der Führung tritt man wieder ins helle Treppenhaus. Der Geruch alter Bücher, die Geschichten aus dem Exil, der Blick auf den Schreibtisch, all das bleibt. Doch am stärksten bleibt der Eindruck einer Autorin, die durch alle historischen Brüche hindurch ihre Menschlichkeit bewahrte. Einer Frau, die genau hinsah. Die Menschen ernst nahm. Die verstand, ohne zu verharmlosen.
Ihre Bücher sind keine Monumente. Sie sind Wegweiser: für eine Literatur, die Realität ernst nimmt und menschliche Erfahrung bewahrt.
Informationen für den Besuch
Adresse: Anna-Seghers-Museum, Anna-Seghers-Straße 81, 12489 Berlin-Adlershof
Öffnungszeiten: Dienstag und Donnerstag (10–16 Uhr) sowie am ersten Sonntag des Monats. Vorherige Anmeldung wird empfohlen. Fotografieren ist nicht gestattet; Postkarten und Broschüren stehen bereit.
Katalog & Materialien: Vor Ort sind gut gestaltete Hefte, Werkübersichten und Postkarten erhältlich. Sie ersetzen das fehlende Fotografieren und bieten einen konzentrierten Einstieg in Leben und Werk.
Ein Besuch lohnt sich – nicht nur für Literaturfreundinnen und -freunde, sondern für alle, die verstehen möchten, wie ein einzelnes Leben sich gegen die Wirren des Jahrhunderts behaupten kann.
Weiterführende Links:
https://adk.de/archiv-der-kuenste/archiv-bibliothek/vor-und-nachlassbibliotheken
https://archiv.adk.de/BildsucheFrames?easydb=lbdovgjcchn2lfsp84cj2bjl0s&ls=2&ts=1765122566
https://anna-seghers.de/eine-lange-nacht-ueber-anna-seghers-im-dlf-kultur/
https://adk.de/archiv-der-kuenste/archiv-museen/anna-seghers-museum
